Günther, du bist seit 2019 EU-Abgeordneter. Denkt die EU genug an die ältere Generation in der EU und welche Rolle spielt sie überhaupt?
Sidl: Es braucht Abgeordnete, die die Anliegen der älteren Generation ständig mitdenken und gegen jegliche Art von Altersdiskriminierung eintreten. Sowie etwa beim jüngsten Versuch die Führerschein-Richtlinie zu ändern und verpflichtende Medizin-Checks einzuführen. Da wird plötzlich so getan, als wären ältere Menschen im Straßenverkehr ein Risiko, obwohl die Statistik zeigt, dass das Unfallrisiko im Alter abnimmt. Das ist ein klarer Fall von Altersdiskriminierung. Deshalb habe ich mich so konsequent dagegengestemmt, Verbündete gesucht und bei der Abstimmung dagegen gestimmt. Ich bin froh, dass dieses Ansinnen verhindert werden konnte. Die EU muss einsehen, dass es nicht nur Wirtschaftstreibende und Menschen im Erwerbsalter gibt, sondern dass die Politik stärker alle Generationen umfassen muss.
Bauer: Da erkennt man auch, dass Vieles von unseren prägenden und solidarischen Errungenschaften in der Gesellschaft leider etwas in Vergessenheit geraten ist. In den letzten Jahrzehnten des Neoliberalismus war der Egoismus für viele die treibende Kraft unserer Gesellschaft. Aber das ist eben für eine hochentwickelte Gesellschaft wie der unseren zu wenig. Eine Gesellschaft ist nämlich mehr als die Summe der einzelnen Teile! Wir müssen lernen, achtsamer miteinander umzugehen und über die eigene Lebenswelt hinauszuschauen. In der Pandemie hat man gesehen, welchen Wert die Solidarität und ein Sozialstaat wie Österreich für uns alle hat. Das war ein wichtiges Signal, auf dem wir aufbauen können.
Hat die EU genug aus der Pandemie gelernt?
Sidl: So unvorbereitet wie bei Corona darf uns keine Krise oder Katastrophe mehr treffen. Ich habe mich als einer der ersten Politiker für einen Sonderausschuss im EU-Parlament eingesetzt, um Verbesserungen für die Zukunft zu erarbeiten. Wir müssen zurück zum Vorsorgedenken, das Europa über Jahrzehnte geprägt hat. Für mich heißt das, dass wir die Medikamente und Schutzausrüstung die wir brauchen, wieder bei uns produzieren. Es braucht eine Re-Industrialisierung ohne rauchende Schlote. Wenn wir wieder mehr produzieren, steigt nicht nur die Versorgungssicherheit der Menschen – sondern wir sichern uns unseren Industriestandort und die damit verbundenen Arbeitsplätze. Der Fokus muss aber darauf liegen, die Probleme in unserem Gesundheitsbereich wieder in den Griff zu bekommen. Aus meiner Sicht geht das nur mit ausreichenden Finanzmitteln, einem menschlichen Verhalten und einem starken öffentlichen Gesundheitssystem!
Bauer: Bei Corona haben die Menschen klar gesehen, wer die echten Heldinnen und Helden waren. Das waren die Menschen, die unsere Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen am Laufen gehalten haben. Damals haben alle applaudiert, aber viel mehr ist nicht passiert. Das Altern gehört zum Leben. Deshalb hat es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass viele von uns eines Tages auf Pflegeangebote angewiesen sein werden. Daraus ergibt sich die Frage, in welchem Gesundheitssystem wir künftig leben wollen? Soll es eine reine Basisversorgung, durch gehetztes und überarbeitetes Personal sein, oder eine umfassende Versorgung, in der es den Pflegebedürftigen und den Pflegenden gut geht. Gerade weil die Antwort auf diese Frage so klar ist, muss sich endlich auch etwas an den Arbeitsbedingungen und den Löhnen in diesem Sektor ändern. Sonst werden wir den Personalengpass nicht lösen können. Da könnte auch die EU viel beitragen, um die Bedingungen für die Beschäftigten nachhaltig zu verbessern.
Ist die Pflege überhaupt ein Thema in Brüssel und Straßburg?
Sidl: Die Pflege liegt ausschließlich in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten. Ich halte aber die Pflege für eine der größten Herausforderungen. Die EU hat daher vor zwei Jahren mit der Arbeit an einer europäischen Strategie für Pflege und Betreuung begonnen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Allein, wenn man bedenkt, dass in Österreich bis zum Jahr 2050 rund 200.000 zusätzliche Pflegekräfte gebraucht werden, sieht man, welche Dimension dieses Thema für die gesamte EU hat. Denn die EU und die Mitgliedsstaaten müssen den Menschen bis ins hohe Alter eine gute Versorgung sicherstellen.
Bauer: Das ist der richtige Ansatz. Es müssen alle zusammenarbeiten, um die Sicherheit im Alter zu gewährleisten. Dabei geht es nicht nur um die Pflege an sich, sondern auch um ein sicheres Einkommen, das die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erst ermöglicht, aber genauso um die notwendige Unterstützung bei Krankheit und Pflegebedarf. Wir haben über Generationen in Österreich dafür gearbeitet, um unsere sozialen Sicherheitsnetze auf- und auszubauen. Nun geht es darum, dass diese Sicherheitsnetze nicht zerstört werden. Das war bei der ersten schwarz-blauen Regierung so und ist auch heute nicht viel anders. Wir müssen uns seit Jahrzehnten gegen die neoliberalen Ideen behaupten, bei denen immer nur die Reichen reicher werden und der Rest der Gesellschaft ärmer wird. Mit Neoliberalen Ideen ist eben kein Staat zu machen oder wie der ehemalige Präsident des ÖGB, Johann Böhm, einmal sagte, die soziale Sicherheit ist die verlässlichste Grundlage der Demokratie. Wer nicht will, dass unsere Gesellschaft immer weiter an die politischen Ränder abdriftet, muss auch die sozialen Belange im Blick haben. Das gilt für Brüssel genauso wie für Wien, St. Pölten und anderswo.
Welche Themen beschäftigen Europa derzeit am meisten?
Sidl: Die EU steht gerade vor einer ganzen Reihe an Herausforderungen: Klimawandel, technologische Fortschritte, Zuwanderung, künstliche Intelligenz, Energieversorgung der Zukunft, die Angst vor dem sozialen Abstieg, der Krieg in der Ukraine und Nahost beschäftigt die Bürgerinnen und Bürger. In dieser krisenhaften Stimmungslage muss ein Zukunftsbild in der EU geschaffen werden, dass sich aktiv für Frieden, Demokratie und Menschenrechte einsetzt. Mein Anspruch ist es, Europa zu verbessern, mit den derzeit 27 Nationalstaaten.
Bauer: Die EU war ja in allererster Linie ein Friedensprojekt. Der Wohlstand, den wir uns in Europa aufbauen konnten, war sozusagen die Friedensdividende, an der alle teilhaben konnten und wo diejenigen, die mehr hatten, auch mehr für die Gemeinschaft gegeben haben. Dieser Konsens muss wieder stärker in den Fokus rücken. Die brennenden Themen die Günter angesprochen hat, sind nicht nur herausfordernd, sondern bieten auch Chancen und Verpflichtungen. Wenn wir unsere Energieversorgung auf mehr erneuerbare umstellen, sind wir besser geschützt vor Preisexplosionen wie wir sie gerade erlebt haben und gleichzeitig erfüllen wir damit auch unsere Verpflichtung den nachkommenden Generationen gegenüber, die auch noch eine lebenswerte Umwelt vorfinden sollen. Unser Blick muss wieder auf die größeren Zusammenhänge gerichtet sein und nicht nur auf das tagespolitische Geschehen.
Welche Herausforderung gibt es noch im Bereich Gesundheit und Umwelt?
Sidl: Wir haben in Europa ein massives Problem beim Umgang mit Umweltgiften wie Glyphosat und anderen Pestiziden. Das sieht man am Zustand unserer Böden und Gewässer und das sieht man bei unserer Gesundheit. 20 Prozent aller Krebserkrankungen werden durch Umweltgifte verursacht. Wenn man bedenkt, dass jedes Jahr rund 40.000 Menschen allein in Österreich an Krebs erkranken, erkennt man die Dimension für ganz Europa. Alles, was wir in die Natur ausbringen, landet letztendlich wieder auf unseren Tellern und damit in unseren Körpern - und da haben Umweltgifte absolut nichts verloren! Deshalb setze ich mich für eine europäische Forschungsstrategie für ökologische Pestizid-Alternativen ein. Wir brauchen neue Möglichkeiten, um unsere Landwirtschaft auch auf diesem Gebiet nachhaltiger zu gestalten und nicht nur der Profitgier der Konzerne zu überlassen!
Bauer: Da sieht man einmal mehr, was passiert, wenn es nur um Profite geht und nicht ausschließlich um den Menschen. Von den 40.000 Krebserkrankungen in der Republik sind rund 9.000 Menschen auch in Niederösterreich betroffen. Das sind erschreckende Zahlen – vor allem wenn man bedenkt, dass hinter jedem einzelnen Fall ein persönliches und ein familiäres Schicksal steht. Wir brauchen eine gesunde Umwelt und gesunde Lebensmittel, um selbst gesund zu bleiben! Ich bin froh, dass Günther dieses Thema so energisch angeht und an Lösungswegen arbeitet, um allen mehr Lebensqualität zu sichern. Das ist genau der politische Zugang, den auch ich selbst immer gelebt habe. Denn das Ziel im demokratischen Prozess muss immer ein Kompromiss sein, bei dem vielleicht nicht alle genau das bekommen, was sie gefordert haben, aber letztlich mit dem alle leben können.
Wie geht es mit der EU weiter?
Sidl: Das hängt vom Wahlausgang am 9. Juni ab. Ich bin davon überzeugt, dass der Kurswechsel hin zu einem starken sozialen Fundament und der Ausbau zu einer echten Sozialunion dringend notwendig ist – für die EU ist er in Wahrheit eine Überlebensfrage. Wenn die EU den Menschen nicht zeigt, wie sie für ihre Bürgerinnen und Bürger da ist, spielt sie den extremen Kräften in der Politik weiter in die Hände. Denn die rechten Bewegungen haben kein Interesse an einer gut funktionierenden EU. Ihnen geht es vor allem darum, aus den Ängste der Menschen politisches Kapital zu schlagen. Davon leben sie und genau das müssen wir gemeinsam verhindern.
Bauer: Es wäre gut, wenn die EU endlich bei den Menschen ankommt und sie aus der „Erschöpfung des Wandels“ herausholt. Aber wenn wir die wachsende Ablehnung der Demokratie beobachten – abzulesen auch an den Wahlerfolgen radikaler Strömungen - muss die EU hier endlich klare Positionen einnehmen, um so den Vorteil einer solidarischen Gesellschaft, in der auf alle Menschen geschaut wird, herauszuarbeiten. Ich bin jedenfalls sicher am 9. Juni bei der EU-Wahl meine Vorzugsstimme unserem Kandidaten Günther Sidl zu geben. Ich würde mich freuen, wenn sich viele anschließen würden.