UG: Herr Dr. Vranitzky, Sie haben Österreich als Bundeskanzler vor bald 30 Jahren, am 1. Jänner 1995, in die EU geführt. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Schon in den 1940er Jahren haben besorgte Vertreter von Politik und Wirtschaft in einigen europäischen Ländern daran gearbeitet, den Dritten Weltkrieg in Europa zu vermeiden und somit den Frieden in unserem Kontinent abzusichern. Auf der Grundlage dieser Initiativen entstanden letztendlich in Jahren die Europäischen Gemeinschaften und daraus dann die Europäische Union. Die österreichische Wählerschaft entschied sich im Jahr 1994 mit eindeutiger Mehrheit dafür, an diesem europäischen Einigungswerk mitzuwirken. Am 1. Jänner 1995 trat die Republik Österreich als Mitglied der Europäischen Union bei. In den darauffolgenden Jahren erwies sich der Beitritt auch und vor allem aus wirtschaftlichen Gründen als mehr als wichtig:
Die Diskriminierung unserer Exporte fiel weg – unsere Betriebe profitierten messbar davon -, die gemeinsame europäische Währung bannte Spekulationen (für ein kleines Land immer eine Bedrohung) und grenzüberschreitende Freiheit für Arbeit, Investitionen und Tourismus schuf ein insgesamt freundliches europäisches Wirtschaftsklima.
Insgesamt also eine positive Bilanz unserer Mitgliedschaft.
UG: Bei der Volksabstimmung 1994 haben sich zwei Drittel der Österreicherinnen und Österreicher für den Beitritt zur Europäischen Union entschieden. Seitdem hat sich jedoch eine gewisse EU-Skepsis eingeschlichen. Warum?
Die EU ist kein Verein, dem man einmal beitritt und glaubt, alles Andere wird schon von selber laufen. Sie ist vielmehr eine große Interessengemeinschaft von 27 Mitgliedsstaaten mit weit über den Tag hinausgehenden Zielsetzungen. Die politisch Verantwortlichen im Mitgliedsland - also Parlament, Bundesregierung, Landtage, Landesregierungen, Städteregierungen u.s.w. - müssen diese Zielsetzung entwickeln. Durch Ideen, Planungen, Programme, Förderungen, etc. Die gemeinschaftliche Kombination all dessen ergibt die Europapolitik zum Nutzen Europas und zum Nutzen der Mitgliedsländer. Die Regierungen der Mitgliedsländer und das Europäische Parlament müssen auf europäischer Ebene die Vertreter der politischen Inhalte sein, die sie auch im Inland ihrer Wählerschaft gegenüber rechtfertigen. Dazu ist ein fortgesetzter politischer Dialog im Inland erforderlich, um die heimische Bevölkerung über die europapolitischen Schwerpunkte und über zu treffende Entscheidungen informiert zu halten.
Eine solche umfassende Vorgangsweise ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, in der Bevölkerung Wissen über, Vertrautheit mit und letztlich Zustimmung zum europäischen Einigungswerk zu schaffen. Europapolitik beginnt zu Hause. Die österreichische Politik hat sich in zwei Jahrzehnten einer solchen Europapolitik mangelhaft bis gar nicht unterzogen. Die von Ihnen erwähnte Euroskepsis in der österreichischen Bevölkerung ist daher nicht allzu verwunderlich.
Und wie kann man wieder eine größere Zustimmung zur EU erreichen?
Konsequente Europapolitik im beschriebenen Sinn soll auch zum „Wir-Gefühl“ beitragen. Es soll nicht heißen „Wir und die EU“, sondern „Wir in der EU“. Außerdem wäre es hilfreich, würden österreichische Minister aufhören, EU-Entscheidungen daheim zu kritisieren, bei deren Entstehung sie selber in Brüssel dabei waren.
Was sind aktuell die größten Herausforderungen auf europäischer Ebene?
Die Herausforderungen sind enorme. Der gesamte europäische Kontinent ist von ihnen betroffen. Denken Sie an das riesige sich schon abzeichnende weltpolitische Spannungsfeld zwischen den USA und China. Dieses Spannungsfeld wird sich auf vielen Gebieten – Politik, Handel, Verkehr, Energie, Sicherheit u.s.w. – entfalten. Kaum eines dieser Gebiete, von denen Europa nicht betroffen ist. Soll es nicht auf Grund der Größenverhältnisse in die Bedeutungslosigkeit und damit in gefährliche Abhängigkeit abgedrängt werden, muss Europa seine Stärke absichern. Und diese Stärke ist ohne Gemeinsamkeit nicht denkbar.
Denken Sie bloß an die Wettbewerbssituationen bei Leiterplatten, Chips, Sonnenpaneelen, Autobatterien oder Pharmazeutika als Beispiele.
EU-feindliche, rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien werden seit Jahren europaweit immer stärker. Bei der Europawahl droht Prognosen zufolge ein Rechtsruck. Welche Folgen hätte das aus Ihrer Sicht?
In ihrem dumpfen Nationalismus („Österreich zuerst“, „Deutschland zuerst“, „Italien zuerst“,…) lehnen die Rechtsnationalisten das Völkerverbindende ab. Diese Ablehnung kann nur bestehen in der Bekämpfung des europäischen Einigungswerks (siehe Austrittsfantasien) oder im Verlassen der Solidarität der weitaus meisten in Europa, die den russischen Kriegsangriff auf die Ukraine verurteilen oder überhaupt in einer Haltung gegen alle und gegen Alles, die oder das nicht aus dem eigenen Land stammt. Am Beispiel Ungarn zeigt sich, dass die Rechtsnationalen Meinungs- und Informationsfreiheit krass zurückdrängen und durch Beeinträchtigung der freien politischen Betätigung im Endeffekt die Demokratie im Staat zu Gunsten einer Autarkie-Realität verdrängen.
Die absehbaren und teilweise schon eingetretenen Verwerfungen haben das Potenzial in sich, unsere liberalen demokratischen Gesellschaften zu destabilisieren und zu Unruhen zu führen, die aus dem 20. Jahrhundert noch bekannt sind.
Die Europäischen Union ist stark auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit ausgerichtet. Welche Initiativen müssen gesetzt werden, um soziale Rechte wie gute Arbeitsbedingungen und sichere Pensionen in den Mittelpunkt zu rücken?
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sozialer Ausgleich, wirtschaftlicher Wohlstand, innere und äußere Sicherheit gehören zu den Angelpunkten der Politik. Das gilt für den Einzelstaat. Das gilt für Europa. Im großen Bereich der Sozialpolitik liegen die Kompetenzen teils bei den Mitgliedsstaaten, teils werden sie übergeordnet wahrgenommen. Dem landläufigen Vorwurf an die EU, es würden hauptsächlich die Interessen der großen Industrieunternehmen verfolgt, sollte man – unbeschadet, ob dieser Vorwurf in seiner allgemeinen Form berechtigt ist – begegnen, indem die Regierungen der Mitgliedsländer ihr Augenmerk auf diese Materie im besonderen Maße richten. Es ist außerdem wichtig, dass die sozialpartnerische Seite gut abgedeckt ist. Mit der Wahl des Präsidenten des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Wolfgang Katzian, zum Präsidenten des Europäischen Gewerkschaftsbundes waltet dort nicht nur eine höchst reputierte Persönlichkeit, sondern wurde auch ein wichtiges Signal für die kleineren Mitgliedsländer gesetzt.
Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, an der EU-Wahl am 9. Juni 2024 teilzunehmen?
Der Satz „Ich bin Österreicher und Europäer“ gewinnt immer mehr an Bedeutung, seit Kriege, Religionskämpfe, Hungersnöte, Hochrüstungsaktivitäten die sogenannte „neue Unordnung“ der Welt herbeigeführt haben. Das gemeinsame, solidarische Europa ist unser Kontinent und wir sollten – ich sagte es schon – unsere Gemeinsamkeit verstärken, weil jeder einzelne Mitgliedsstaat zu klein ist, um in der Welt Gewicht zu haben und seine Interessen allein auf sich gestellt vertreten zu können. Die gesamte Bevölkerungszahl der 27 Mitgliedsstaaten beträgt 440 Millionen. Gemeinsam sind wir also nicht die kleinsten der Welt. Genau das bewegt mich dazu, an der Wahl zu unserem Europäischen Parlament mitzuwirken und so viele Menschen in Österreich einzuladen, es mir gleichzutun.
Die Frauen und Männer, denen wir am 9. Juni unsere Stimmen geben, wollen wir stärken, um auf europäischer Ebene unsere Anliegen, unsere Interessen, unsere Forderungen zu vertreten und ein Europa mit Gewicht und Bedeutung in der Welt. Außerdem wollen wir an der Wahl teilnehmen, um nicht denen die europäischen Parlamentssitze zu überlassen, die für unsere Zukunft, für unser Leben, für unseren modernen Staat nicht Gutes im Schilde führen. Wie die Rechtsnationalen, Rechtskonservativen und Staatsverweigerer. Politik findet auf alle Fälle statt. Wenn wir unsere Stimme geschlossen abgeben, dann mit uns.
Wenn nicht, ……?