Helfried Carl ist seit 2019 Partner des von ihm mitgegründeten Innovation in Politics Institute in Wien. Er war Büroleiter und außenpolitischer Berater von Nationalratspräsidentin Barbara Prammer und Botschafter in der Slowakischen Republik.
Interessensvertretung

© Hellfried Carl

Die Österreichische Neutralität im 21. Jahrhundert

Am 14. November begrüßte Dr. Elisabeth Hlavac, Nationalratsabgeordnete a.D. und Bildungsreferentin des PVÖ-Wien, Mag. Helfried Carl, einen führenden Experten, wenn es um die Neutralität Österreichs geht. In seinem Vortrag erklärte er politische Zusammenhänge und Entwicklungen in Europa, die auch Österreich betreffen.

Der russische Überfall auf die Ukraine hat europaweit zu Überlegungen einer neuen Sicherheitsstrategie geführt. Das gilt auch für Österreich. Die immerwährende Neutralität wird jedoch von den Regierungsparteien und von der Opposition SPÖ nicht in Frage gestellt. Sie erfreut sich in der Bevölkerung hoher Zustimmung, auch weil sie mit der langen Periode des Friedens mit dem 2. Weltkrieg und dem österreichischen Wohlstandsmodell in Verbindung gebracht wird. Gleichzeitig stellen sich mit dem Völkerrechtsbruch der Russischen Föderation viele Fragen, wie die Neutralität Österreichs als Mitglied der Europäischen Union unter diesen Bedingungen zu interpretieren ist und in Zukunft sein wird, damit die militärische Sicherheit zu vertretbaren Lasten (Stichwort Sky-Shield) gewährleistet werden kann.

 

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Demokratie lässt Kritik zu.

Neutralität bedeutet im Völkerrecht die Unparteilichkeit eines Staates im Falle gewaltsamer Auseinandersetzungen eines Staates mit anderen Staaten.

Ein neutraler Staat tritt nicht als Partei auf einer Seite eines bewaffneten Konflikts auf und leistet keine direkte oder indirekte Unterstützung an eine der Konfliktparteien. Basis dafür bilden die Haager-Abkommen (1899 und 1907), die völkerrechtlich verbindlich verhandelt wurden und damit die Definition des Neutralen begründet haben.

Konkret bedeutet es, dass die neutralen Staaten das Recht auf Unverletzlichkeit des Territoriums haben, sie haben die Pflicht, die Verletzung ihres Staates zu verhindern, sie haben die Pflicht sich zu enthalten im Hinblick auf Kampfhandlungen Dritter. Das betrifft alle militärischen Angelegenheiten. Diplomatische oder sonstige Angelegenheiten sind davon nicht betroffen.

1907 gab es einige neutrale Staaten.

Belgien und Luxemburg sind in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen, denn niemand hat sich damals im Kriegsfall an den Status der Neutralität gehalten. Die deutschen Aufmarschpläne waren darauf ausgerichtet, Belgien sofort zu überrennen und das ist im 1. Weltkrieg auch geschehen.

1938-1945 – Österreich hat seine Staatlichkeit verloren und Teil des Deutschen Reiches. Nach dem 2. Weltkrieg wurde Österreich als 2. Republik wieder gegründet und man befürchtete, dass Österreich das gleiche Schicksal wie Deutschland hat und es zu einer Ost-West-Trennung kommt.

1954 hat sich die Position der Amerikaner geändert und man hat sich darauf geeinigt, dass es einen Staatsvertrag geben und sich Österreich unabhängig davon auf seine Neutralität festlegen wird. Die Neutralität ist also kein rechtlicher Teil des Staatsvertrages, sondern eine politische Voraussetzung für sein Zustandekommen gewesen. Das bedeutet, dass das österreichische Parlament die Neutralität nicht ratifiziert sondern ein Neutralitätsgesetz am 26. Oktober 1955 beschlossen hat.

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Das Österreichische Neutralitätsgesetz

„Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen.“ (Neutralitätsgesetz, Artikel 1)

„Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.“ (Neutralitätsgesetz, Artikel 2)

Daraus kann abgeleitet werden:

  • Zweck ist die Behauptung unserer Unabhängigkeit und NICHT, dass die ratifizieren Staaten des Staatsvertrages zufrieden gestellt werden und ihnen Garantien geben. Diese Zwecke werden gesichert durch die Pflichten, nämlich dass wir keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Anlagen fremder Staaten auf unserem Gebiet nicht zulassen.
  • Die Neutralität ist ein reiner innerstaatlicher Akt, was es uns ermöglicht hat, der EU und den Vereinten Nationen beizutreten. Österreich ist verpflichtet und interessiert, das Völkerrecht hochzuhalten, daher beteiligen wir uns konstruktiv daran, zum Beispiel bei Entsendung von Friedenstruppen in ein Kriegsgebiet.

Immerwährende Neutralität ist Teil unserer Staatswerdung in den 50er Jahren.

Dadurch hat Österreich seine Souveränität wieder erlangt. Es gibt politische Gruppierungen, die die Geschichte verdrehen und gegen die Neutralität sind mit dem Argument, diese sei uns von den Alliierten aufgedrängt worden. Leider stimmt diese Denkhaltung nicht mit der realen Geschichte überein, weil man die Vorgeschichte übersieht in der das 3. Reich den Alliierten einiges aufzwingen wollte. Für Österreich war es wohl der beste Weg, die staatliche Unabhängigkeit zu garantieren. Die österreichische Identität, die ja zu Beginn nicht so gegeben war, weil nicht klar war, ob es eine österreichische Nation geben wird. Jedenfalls ist der Begriff der österreichischen Nation sehr stark mit dem Begriff Neutralität verbunden.

Wir müssen daher immer darauf schauen, was bedeutet Neutralität im historischen Kontext und was können wir davon beibehalten. Eine Abschaffung ist keinesfalls ein Thema. Das Neutralitätsgesetz lässt die Ausgestaltung der Neutralität weitgehend offen. Für eine genaue rechtliche Bestimmung wird auf das Völkerrecht verwiesen. Zur Frage, wer die Deutungshoheit hat, hat der Diplomat und Völkerrechtsexperte Franz Zede pointiert zwei Sichtweisen formuliert:

  1. Korsett-Doktrin: Alle anderen Staaten müssen zustimmen, wenn wir unsere Neutralität anders interpretieren, als bisher.
  2. Frank-Sinatra-Doktrin: Sieht die Interpretation allein bei Österreich frei nach dem Prinzip „I do it my way!“

Die nächste große Debatte zur Neutralität kam mit dem EU-Beitritt Österreichs. Dieser ist nicht im politischen Vakuum entstanden. Es ist entstanden zu einem Zeitpunkt als sich die Geschichte all dessen, was die Neutralität bis dahin ausmachte, aus dem kalten Krieg heraus verändert hat. Davon war Kreiskys Denken geprägt, weil es ihm darum ging, wie wir uns im kalten Krieg bestmöglich positionieren können. Deshalb war auch in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts ein EG-Beitritt ausgeschlossen.

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Nach 1989 haben sich die Verhältnisse geändert und wurden neu geordnet.

Die Sowjet Union ist zerbrochen und zudem wurde uns von russischen Föderation schriftlich zugesichert, dass es unsere Angelegenheit ist, wie wir mit einem EU-Betritt umgehen.

Die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch eine politische Gemeinschaft.

Österreich hat sich verpflichtet voll umfänglich zu beteiligen und niemand hat dem widersprochen. Dazu wurde auch die Bundesverfassung geändert und die Rechtsgrundlage geschaffen, damit der Nationalrat entsprechend mitwirken kann. Um die Neutralität weiterhin gewährleisten zu können, wurde im EU-Vertrag die „irische Klausel“ beschlossen, die besagt, dass die gemeinsame Sicherheit- und Verteidigungspolitik den besonderen Charakter bestimmter Mitgliedsstaaten nicht berühren darf. Das ist insofern wichtig, weil die Bündnisverpflichtung bei der EU stärker ist als bei der NATO, wo zum Beispiel 9/11 erst als Bündnisfall beschlossen werden musste.

Theoretisch könnten wir die Neutralität aufgeben, da es sich um ein innerstaatliches Gesetz – ein Bundesverfassungsgesetz – handelt. Wir müssten nicht einmal eine Volksabstimmung abhalten. Verfassungsrechtlich wäre es möglich. ABER: Neutralität ist das Selbstverständnis der österreichischen Bevölkerung, daher wäre wohl auch eine Volksabstimmung politisch nötig.

Wenn also ein ÖVP-Bundeskanzler des EU-Mitgliedstaates Österreich mit „irischer Klausel“ nach Russland fährt, und meint, er trage zum Frieden bei, ohne sich mit den anderen EU-Politikern abzustimmen, dann ist das eine inhaltsleere symbolische Geste. Das sieht auch die russische Föderation so! Bruno Kreisky hätte das NIE gemacht, denn er hat auf das Primat Völkerrecht gehalten, weil er wusste, dass ein Staat mit der Größe Österreichs das tun müsse, um Völkerrecht und Neutralität hochzuhalten.

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Was kann Österreich also tun,...

... um Völkerrecht und Neutralität im 21. Jahrhundert auszugestalten?

Ist zum Beispiel das Projekt Sky-Shield mit der Neutralität Österreichs vereinbar?

Wie wollen wir uns gegen Angriffe schützen, wie sie derzeit in der Ukraine geschehen? Wenn Raketen aufsteigen, müssen Entscheidungen fallen, und zwar innerhalb von rund 8 Minuten, weil es solange dauert, bis diese Österreich überquert haben. Wer entscheidet, was passieren soll? Abschießen? Überqueren lassen? Die derzeitige Verteidigungsministerin sagt, dass es kein Problem sei, was die Frage aufwirft, warum die Verteidigungsministerin hier die Deutungshoheit hat. Müssten die Fragen nicht eher von Außenministerium oder Verfassungsdienst geklärt werden? Die Frage, ob Sky-Shield mit der Neutralität kompatibel ist, ist bisher nicht eindeutig beantwortet. Aber auch eine mangelnde Luftverteidigung Österreichs ist nicht mit der Pflicht des Neutralen zum Schutz des eigenen Gebiets vereinbar. Hier gibt es ein Dilemma.

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Es ist in Österreichs Interesse, die EU zu stärken und in deren Zentrum zu stehen. Gleichzeitig gilt es aber darauf zu achten, wie sich die EU weiterentwickeln wird. Aktuell ist die EU und damit auch Österreich mit dem Ukraine-Krieg, dem Nah-Ost-Konflikt und der Aussicht auf eine weitere Präsidentschaft Trumps, der die NATO in Frage stellt, konfrontiert.

Für Österreich wird es zukünftig wichtig sein, neutral zu bleiben, aber die Neutralität nicht als Hindernis für die Integration in die EU zu instrumentalisieren.

Die Neutralität soll den Frieden in Österreich sichern. Und die EU soll den Frieden in Europa sichern. Deshalb ist es wichtig, dass Österreich aufgrund eigener Interessen die EU nicht in ihrem Wachstum behindert, sondern an der Weiterentwicklung und dem Ausbau der EU unter Bekennung zur Neutralität aktiv mitarbeitet.