Am 19. September 2023 begrüßte PVÖ-Wien-Landespräsident Harry Kopietz, Josef Zellhofer, den Bundesvorsitzenden der ÖGB ARGE FGV für Gesundheits- und Sozialberufe. Unter der Leitung der Bildungsreferentin des PVÖ-Wien, Elisabeth Hlavac, fand eine Gesprächsrunde statt, bei der Helene Starzer (Landesvorsitzende der Vida-PensionistInnen), die PVÖ-Mitglieder Wolfgang Keck und Bernadette Semerad, sowie Michaela Sramek, Landesgeschäftsführerin des PVÖ-Wien, mit Josef Zellhofer die Hintergründe dieses komplexen und brisanten Themas beleuchtet haben. Ein Thema, das uns alle angeht, einerseits wenn man selbst pflegebedürftig ist oder wird, andererseits wenn Angehörige davon betroffen sind.
Professionelle Pflege an der Grenze des Machbaren - Ursachen verstehen und Lösungen finden.
Pflegenotstand: ja – Pflegereform: nein!
Mit diesen einleitenden Worte merkte Josef Zellhofer an, dass das Thema Pflegereform abgetan sei, weil diese defacto (noch) nicht stattgefunden habe. Zwar gab es Veränderungen im Bereich einer marginalen Erhöhung des Pflegegelds und im Bereich der 24-Stunden-Betreuung. Das sei es aber auch schon gewesen!
Österreich berufe sich auf ein Gesundheitssystem, in dem es um die Menschenwürde geht, um die Selbstbestimmung, um die Information und auch um die Unterstützung der Betroffenen. Und obwohl das gesetzlich verankert sei, habe sich in den vergangenen zehn Jahren niemand mehr daran gehalten. Die Begründung dafür sei im österreichischen Gesundheitssystem insbesondere im Bereich der Gesundheitsberufe zu finden. Demnach sind Angehörige des höheren Dienstes angehalten und bestrebt, qualitätsvolle Arbeit zu leisten. Leider seien die Voraussetzungen dafür nicht immer gegeben, weil es sowohl an Qualifikationen als auch an Personalressourcen mangle. Als Beispiel führt Zellhofer an, dass in Salzburg ein Pflegeheim gesperrt und in ein Flüchtlingsheim umgewidmet wurde.
Es gibt Herzausforderungen an das Gesundheitssystem, denen man sich stellen muss.
Derzeit würden sich weder Politik noch Interessenvertretungen ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen. Dazu käme noch der demografische Wandel, also Überalterung der Bevölkerung, und auch die mangelnde Anerkennung der professionellen Pflege. So gäbe es derzeit keine Dokumentation über die Pflege – sondern nur über Ärzt*innen. Diese Faktoren würden unweigerlich zu Qualitätsverlusten und Versorgungsengpässen führen, denn wenn man nicht wisse, was man tatsächlich brauche, könne man auch nicht an einer konkreten Umsetzung arbeiten.
Die MISSCARE Austria Studie der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften der Universität Wien zeigt auf, dass die Pflegefachkräfte auf allgemeinen Stationen aufgrund von Ressourcen-Knappheit und Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit und Kommunikation im Team notwendige Pflegetätigkeiten weglassen müssen. Zellhofer drückt noch mehr auf diese Wunde! Man müsse sich vergegenwärtigen, dass es hier um Menschenleben gehe: „Wir reden nicht davon, dass einmal die Zähne nicht geputzt werden. Wir reden davon, dass der Verbandwechsel erst drei Tage später durchgeführt werden kann!“ Diese Forschungsarbeit habe jedenfalls die Haupteinflüsse für die Mängel in der Pflege in den österreichischen Krankenhäusern sichtbar gemacht und nun werde versucht, mit evidenzbasierten Interventionsmöglichkeiten die Lage zu verbessern. Leider nur in der Theorie.
Derzeit betrage die Verweildauer im Pflegeberuf ungefähr sieben Jahre. Ein Wiedereinstieg beispielsweise nach der Karenzzeit sei schwierig, weil es keinen geführten Wiedereingliederungsprozess gäbe.
Das Recht der österreichischen Bevölkerung auf Behandlung und Pflege.
Es stellt sich daher die Frage, ob dieses Recht im derzeitigen Gesundheitssystem gewährleistet werden kann? Welche Maßnahmen sind notwendig? Um diese Fragen beantworten zu können, holt Zellhofer aus und blickt bis ins Jahr 1960 zurück:
Seine Recherchen ergaben, dass das Thema Pflege seit dieser Zeit immer als Problem dargestellt wurde. Zwar hätten sich im Laufe der Zeit gewisse Gegebenheiten verändert, aber im Wesentlichen sei es ein wiederkehrendes Problem und zeige ganz klar den Stellenwert der Pflege auf. Keine politische Partei habe sich damit ernsthaft auseinandergesetzt. Die Pandemie habe die Situation dann nochmals verschärft und vor Augen geführt, wie relevant Pflege letztendlich sei – oder eben auch nicht.
Jetzt könnte man natürlich hinterfragen, warum etwas verändert werden müsse, wenn es die letzten 60 Jahre auch irgendwie funktioniert hat. Fakt sei, dass immer nur die pflegenden Personen dafür „bezahlt“ hätten und systemisch ausgebeutet wurden. Wird heute von einer 32-Stunden-Woche gesprochen, dann sei dies ein Hohn und eine Absage an alle, die diesen Beruf mit Hingabe ausführen. Zellhofer wäre froh, wenn 40 Stunden pro Woche einhalten werden könnten. Erst kürzlich habe ein führendes Wiener Spital die Stundenverpflichtung der Ärzt*innen auf 55 Stunden erhöht – freiwillig versteht sich.
Die MISSCARE Austria Studie zeigt Systemfehler auf.
Politik und Entscheidungsträger*innen hätten grundsätzlich ein fehlendes Verständnis von der professionellen Pflege führt Zellhofer weiter aus. Nach dem Motto „Jeder kann pflegen“ brauche es demnach keine Qualifikation und keine zusätzlichen Personalressourcen. Dass aber beispielsweise im Bereich der Onkologie eine fünfjährige Ausbildung in der Pflege notwendig ist, wird einfach übergangen.
Durch die dauernde Personalknappheit sind Pflegequalität und damit auch der Beruf bedroht, denn viele steigen aus, weil sie nicht mehr in der Lage sind, menschliche und fachlich korrekte Pflege durchzuführen. Es sei darüber hinaus eine absolute Mär, dass die Pflege die ärztlichen Tätigkeiten übernehmen wolle. – Nein, die Pflege will pflegen – 97% der FH-Absolvent*innen gehen in den stationären Bereich. Die Politik würde Agenda-Setting betreiben, indem kontinuierlich das Bild gezeichnet werde, dass die FH-Absolvent*innen als Akademiker*innen nur in Führungspositionen tätig sein wollen. Wie es zu dieser Haltung komme, kann Zellhofer nicht nachvollziehen und vermutet festgefahrene Meinungen basierend auf vergangenen Gegebenheiten. Aus eigener Erfahrung weiß er um den Qualitätsunterschied zwischen Pflegepersonen mit „Diplom alt“ und dem Standard der heutige FH-Absolvent*innen. Aufgrund einer Operation musste er selbst im Krankenhaus gepflegt werden. Pflegeperson mit „Diplom alt“ wollte ihm Insulin spritzen, obwohl er nein sagte. FH-Absolvent kam dazu und insistierte, wenn der Patient nein sagt, dann sei es auch nein. Darüber hinaus hatte er im Gegensatz zur Pflegeperson mit „Diplom alt“ seine Krankengeschichte gelesen und folgerichtig erkannt, dass sich der Zuckerspiegel wieder normalisieren würde. (Anmerkung: Durch hohe Dosen an Cortison aufgrund des Verdachts auf ein Lungenkarzinom kam es zu dieser Dysfunktion – eine Gabe Insulin hätte in weiterer Folge zur Abhängigkeit geführt.)
Bei der Finanzierung spielt die Pflege (k)eine Rolle.
„Wir haben immer weniger qualifizierte Pflegepersonen“, legte Zellhofer nach, „Das heißt, es kommt zu einer Minderung der Patientensicherheit bezogen auch auf den medizinischen und therapeutischen Outcome. Das heißt, es müsste in die Akademisierung der Pflegefachkräfte investiert werden. Wird es aber nicht, weil befürchtet wird, dass dann mehr Entlohnung eingefordert wird.“ Gerade im öffentlichen Bereich träfe das nicht zu, denn Personen mit der Ausbildung „Pflege alt“ würden genauso viel verdienen wie die FH-Absolvent*innen.
Die Stadt Wien geht den Weg in Richtung Akademisierung und schafft Ausbildungskapazitäten.
Man rechne erfreulicherweise bald mit mehr als 8000 Menschen in Ausbildung. Der Andrang und die Nachfrage seien groß und so wurde ein Zusatzlehrgang eingezogen für 400 Personen – beworben haben sich 1.500. Die Stadt Wien würde es daher wahrscheinlich bald schaffen, dem Bedarf gerecht zu werden. Auch in Niederösterreich versuche man an der FH-Krems bereits derartige Lehrgänge zu etablieren, die laut Zellhofer auch schon gut funktionieren dürften.
Wie bereits erwähnt, seien die prekären Arbeitsbedingungen für einen vorzeitigen Ausstieg verantwortlich. In Wien spüre man aber schon erste Erfolge aufgrund der Ausbildungsinitiative – hier wird ja bereits seit 10 Jahren ausgebildet. Das bewirke, dass die weiblichen Pflegekräfte, wenn sie aus der Karenzzeit wieder einsteigen wollen, nun viel selbstbewusster seien und Wiedereinführung aktiv einforderten. Sie wollen einfach den Beruf, den sie gelernt haben, qualitätsvoll ausüben können. „Daher bringen auch Imagekampagnen betreffend Bonuszahlungen nichts, denn es geht immer um die aktuellen Rahmenbedingungen, fehlende angemessene Personalressourcen, Mangel an notwendiger Ausstattung und Hilfsmittel und technologische Innovation“, ist Zellhofer überzeugt. Hierarchische inadäquate Arbeitsplatzkulturen führten zu Machtungleichheit und fehlgeleiteten Strukturen, was Mobbing und all diese „lustigen“ Sachen zuließe, nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in allen damit in Zusammenhang stehenden Organisationen, Verwaltungen und auch Interessensvertretungen.
Die Auswirkungen auf den Berufsethos seien mit den unterschiedlichen Standards aufgrund der Ausbildung nicht zu unterschätzen. Wenn den ausgebildeten Pfleger*innen untersagt werde, Aufgaben so zu erledigen, wie sie es gelernt haben, würden sich die FH-Absolvent*innen heute anderen Bereichen zuwenden.
Es gibt einen Paradigmenwechsel und der heißt: „Spitäler zusperren!“
Der österreichische Strukturplan sehe vor, dass nicht ökonomisch geführte Spitäler zugesperrt werden. Wien habe das im Prinzip schon umgesetzt. Es würden nun noch einige zentrale Neugebäude folgen, die bereits beschlossen und ausfinanziert seien. Der Paradigmenwechsel meine, dass man Spitäler nur noch dann anfährt, wenn es um Akutes geht. Das bedeute in weiterer Folge die Schaffung von Primärversorgungseinrichtungen. In Österreich – vor allem in den Bundesländern – gäbe es dafür viele gute Beispiele, was der Entlastung der Spitäler diene.
Jedenfalls würden diese erschwerten Rahmenbedingen zur Verletzung der beruflichen Integrität führen. Auf politischer Seiter werde daher nach unten nivelliert, was in allen Bereichen eine Verschlechterung bewirke, die nun auch bei den Patient*innen angekommen sei. Es gäbe wenige Perspektiven für weiterführende Ausbildung und systematische Weiterentwicklung. Es scheine so, also ob eine Erhöhung der Kompetenzen und Erlangung von mehr Autonomie nicht gewünscht sei. Die fehlende Strategie, um den tatsächlichen Pflegebedarf der Menschen zu ermitteln, führe dazu, dass auch das Image von „Pflege“ negativ bewertet sei.
Offene Stellen mit niedrig qualifiziertem Pflegepersonal zu besetzen, könne die Lage nicht retten. Patient*innen seien mündiger geworden und wollen beste Qualität, Wertschätzung und Selbstbestimmung. Allen voran müssen berufliche Perspektiven und professionelle Rahmenbedingungen in der Praxis geschaffen werden.
Daher bedarf es einer tiefgreifenden Umstrukturierung des Gesundheitssystems. Man müsse die derzeitigen Gegebenheiten und Rahmenbedingungen hinterfragen, und zwar nicht nur im Akutbereich. Die Grundlage professioneller Pflege sei das humanistische Prinzip, zentriert auf die Pflege im System und die zwischenmenschliche Beziehung.
Was bedeutet Pflege wirklich?
„Pflege ist NICHT Erfüllungsgehilfe des Arztes. Es geht um den Bedarf der Patient*innen und der Familie und den darauf bezogenen Pflegepersonaleinsatz. Konzepte, die diese Anforderungen beinhalten, liegen vor, werden aber von Politik und Interessenvertretungen abgelehnt“, merkt Zellhofer an. Zwar trage die Politik die Verantwortung, aber eine Umsetzung entlang dieser Konzepte würde Eruptionen im Gesundheitssystem auslösen und alteingefahrene ineffiziente Strukturen ins Rampenlicht rücken.
Taskforce-Pflege
Diese Arbeitsgruppe habe ein Konzept für die Weiterentwicklung der professionellen Pflege für Politik und die Entscheidungsträger aufbereitet – leider ohne Erfolg in der Umsetzung. Wenn man also den Expert*innen nicht glaube, dann könnte die Politik selbst das Sammeln von Daten veranlassen und auswerten, und zwar mit dem Ziel, den Pflegebedarf faktenbasiert zu ermitteln, abgestimmt auf den Kulturraum Österreich.
Die Zukunft der Pflege zeigte Zellhofer mit folgenden Spezialisierungen auf: School Nurses, Hospiz-Bereich (z.B. Chemotherapie), intensivpflichtige Betreuung zu Hause (z.B. intubierte Kinder), Heimdialyse (z.B. heuern Firmen Pfleger*innen an, damit diese vor Ort deren Geräte bedienen), Diabetes-Strategie und Betreuung durch die Community-Nurse, Schmerztherapie, Betreuung chronisch kranker Kinder, Primärversorgungszentrum.
„Wenn sich die Rahmenbedingungen ändern würden, also Erhöhung des Personalschlüssels um 20%, Berechnung des bundesweiten Personalbedarfs, Schaffung von Wiedereinstiegsmöglichkeiten nach der Karenz sowie Festlegung bundeseinheitlicher Standards, dann könnte man 40.000 ausgebildete Pflegekräfte zurück in den Beruf holen,“ ist sich Zellhofer sicher. Das Wichtigste sei neben Anerkennung und Wertschätzung die Zusammenarbeit auf Augenhöhe im Rahmen einer kollegialen Führung. Es gehe nicht ums Geld, wie bei Befragungen festgestellt wurde. Es gehe um Ausbildung, Fort- und Weiterbildung, wobei die Pflegelehre dringend abzuschaffen sei, weil die Lehrlinge als billige Arbeitskräfte missbraucht würden.